Frankfurter Allgemeine Zeitung Europäische Union ein Imperium wie das Zarenreich Historiker untersuchen Kollaps von Machtgebilden / Vorträge des Forschungskollegs Humanwissenschaften
BAD HOMBURG. Die Wissenschaftler am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg wenden sich der Frage zu, warum Imperien zusammenbrechen. Die Geschichtswissenschaftler, die sich im »Historischen Kolleg« zusammengeschlossen haben, erforschen als Jahresthema die Bedingungen, unter denen machtvolle Herrschaftsgebilde in sich zusammenfallen, wie Andreas Fahrmeir sagte, der wissenschaftliche Koordinator des historischen Kollegs und Professor an der Frankfurter Universität. Inspiriert sei die Themenwahl auch vom 100. Jahrestag des Zusammenbruchs des russischen Zarenreichs im Jahr 1917. In den Blick nehmen werde man dennoch verschiedene Großreiche in einer »epochenübergreifenden« Sichtweise, um vergleichen zu können. Die Ergebnissen werden in einer Reihe öffentlicher Vorträge dargestellt.
Mit dem Begriff Imperium beschreiben die Forscher dabei allerdings nicht nur Kaiserreiche wie das Zarenreich oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, sondern auch die Europäische Union. Das erläuterten Christoph Duve und Christoph Cornelißen, die beiden Programmverantwortlichen des Themenjahrs.
Denn gemeint sei eine »großräumige Struktur«, eine politische Einheit, die verschiedene Sprachgruppen oder eine Bevölkerung mit unterschiedlichen Kulturen oder Religionen umfasse und integriere. Das treffe auf die Europäische Union ebenso zu wie etwa auf das Habsburgerreich. Organisationen wie die EU stünden den Nationalstaaten gegenüber, die sich dem Staatenbund anschlössen und an ihn Souveränitätsrechte abgäben.
Nach diesem Verständnis kämen Imperien nicht nur durch Eroberung, also durch das Zusammentreffen von Besatzern und Unterworfenen, zustande, sondern durch einen Interessenausgleich, der in Verhandlungen festgelegt werde, sagte Cornelißen. Doch auch bei einer Eroberung wie etwa der Südamerikas durch die Spanier und Portugiesen spielten Aushandlungsprozesse eine wichtige Rolle, sagte Duve. Denn die Eroberer hätten sich etwa mit einem Stamm der Urbevölkerung verbündet, um gegen einen anderen Stamm zu kämpfen.
In der Geschichtsschreibung stehe oft nicht die Expansionsphase im Vordergrund, sondern die Friedensordnung, wenn das Reich seinen Höhepunkt erlebe, sagte Fahrmeir. Als Beispiel nannte er die Pax Romana oder den Frieden, den die Briten in ihren Kolonien durchsetzten. Wenn eine solche Friedensordnung zusammenbreche, bildeten sich in vielen Fällen Nationalstaaten. Dann werde die Bevölkerung eines Reichs auseinanderdividiert, damit jeweils eine Gruppe mit der gleichen Sprache, Kultur und Religion einen eigenen Staat bilden könne. Als Beispiel dafür nannte Cornelißen das Ende des Osmanischen Reichs im Jahr 1917. Die Folgen der Staatenbildung auf dem Boden dieses untergegangenen Imperiums, auch unter Einfluss europäischer Mächte, wirkten nach bis in die Gegenwart mit ihren Konflikten.
Häufig würden Imperien negativ bewertet und als Apparate der Unterdrückung beschrieben, sagte Cornelißen. Erst in der Forschung der jüngsten Zeit werde wahrgenommen, dass die einzelnen Gruppen innerhalb eines Reichs kulturelle oder politische Autonomie genössen. Thema der Veranstaltungsreihe werde auch sein, dass das Ende eines Imperiums nicht endgültig sein müsse. So sei das einst mächtige Großreich China hinter die europäischen Staaten zurückgefallen und erlebe nun ein erneutes Erstarken.
Zum einem Vortrag über das Ende des russischen Reiches wird für Donnerstag, 16. Februar, 19 Uhr, in das Forschungskolleg, Am Wingertsberg 4, eingeladen. Einige Abende der Reihe werden im Bad Homburger Schloss ausgerichtet. Dort spricht der Freiburger Historiker Jörn Leonhard am Donnerstag, 18. Mai, 19 Uhr, über "Imperien auf Abruf? Zur Lage der Imperien in Europa im Kriegsjahr 1917". Das Forschungskolleg Humanwissenschaften wird von der Frankfurter Universität gemeinsam mit der Bad Homburger Werner-Reimers-Stiftung getragen. (JAN SCHIEFENHÖVEL [Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rhein-Main, vom 2. Februar 2017, S. 40])
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Pressemitteilung »Wissenschaftler aus aller Welt zu Gast in Bad Homburg: Themen und Vorträge im Herbst 2015« Eröffnung des Wintersemesters 2015/16 am Forschungskolleg Humanwissenschaften
Sechs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus fünf Ländern werden im Herbst 2015 zu Gast am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg sein. Als »Fellows« des Kollegs werden sie dort für einige Monate bis zu einem Jahr leben und arbeiten. Am Montag werden sie im Rahmen eines kleinen Empfangs offiziell von Professor Matthias Lutz-Bachmann, dem Wissenschaftlichen Direktor des Kollegs, und Iris Helene Koban, der neuen Geschäftsführerin des Kollegs, begrüßt und der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch das akademische Vortrags- und Konferenzprogramm werden bekannt gegeben.
In diesem Herbst liegt der Schwerpunkt der Arbeit am Kolleg auf der Politischen Theorie. Die Fellows, die in diesem Bereich arbeiten, kommen aus den USA, aus Kanada, Großbritannien, Russland und Italien. Alle beschäftigen sich mit der Frage, vor welchen Herausforderungen unsere Welt in Zeiten der Globalisierung steht. Melissa Williams etwa arbeitet an einem Buch über die Zukunft der Demokratie in der globalen Welt. Die Professorin für Politische Theorie an der Universität in Toronto wird ihr Gastjahr in Bad Homburg und (für drei Monate auch) in Berlin verbringen. Am Bad Homburger Kolleg findet sie zum einen die Ruhe und die Forschungsumgebung vor, die sie für die konzentrierte Arbeit an ihrem Buch benötigt. Gleichzeitig steht sie in engem Kontakt zu ihren deutschen Kollege*innen an der Goethe-Universität. So nimmt sie an den dortigen Kolloquien mit fortgeschrittenen Studierenden regelmäßig teil. (In ihrer Freizeit lernt sie deutsch und erkundet die hessischen Ausflugsziele wie die Saalburg und den Hessenpark). Ihr Co-Fellow am Kolleg, der Nachwuchswissenschaftler Isaac Taylor aus Großbritannien, stellt das Problem der Terrorismusbekämpfung in den Mittelpunkt seiner Arbeit und fragt, wer die Kosten für die Bekämpfung des Terrorismus tragen soll. Auch er ist ein ganzes Jahr zu Gast am Kolleg, und auch er freut sich auf die Gespräche mit den Wissenschaftler*innen an der Goethe-Universität. Finanziert werden die Aufenthalte der Fellows hauptsächlich von den großen Forschungsprojekten, die an der Goethe-Universität angesiedelt sind: von dem Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« und der Kollegforschergruppe »Justitia Amplificata: Erweiterte Gerechtigkeit« ? wie Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität und Mitglied im Direktorium der Forschungskollegs, ausführt.
Zentrale Aufgabe des Forschungskollegs ist es, wissenschaftliche Forschung in die Öffentlichkeit hineinzutragen. So gibt es auch in diesem Herbst eine Reihe von Abendvorträgen, zu denen das Forschungskolleg Humanwissenschaften die interessierte Öffentlichkeit sehr herzlich einlädt. Die Vortragsreihe EuropaDialoge wird fortgesetzt mit Vorträgen des französischen Historikers Jean-Frédéric Schaub (21.10.15) und des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel (10.12.15); die Reihe über die »Zukunft des Liberalismus« mit Vorträgen des Berliner Finanzsenators Matthias Kollatz-Ahnen (13.10.15) und der Journalistin Ursula Weidenfeld (12.11.15). Die Programmlinie »Historisches Kolleg im Forschungskolleg Humanwissenschaften« hat zwei öffentliche Vorträge auf dem Programm – und zwar von dem Berliner Afrikanisten Andreas Eckert (26.10.15) und dem Tübinger Historiker Volker Leppin (5.11.15). Zum Abschluss des Jahres, am 16. Dezember 2015, wird die ungarische Philosophin Ágnes Heller einen deutschsprachigen Vortrag über den Begriff der »Empathie« halten. Sie wurde von Dmitri Nikulin eingeladen, einem russischstämmigen Philosophen, der in diesem Herbst ebenfalls einen Gastaufenthalt in Bad Homburg verbringt.
Ausführliche Informationen über die Fellows und die Vorträge finden Sie auf der Homepage des Forschungskolleg Humanwissenschaften: www.forschungskolleg-humanwissenschaften.de.
Über das Forschungskolleg Humanwissenschaften Das Forschungskolleg Humanwissenschaften – ein Institute for Advanced Studies der Goethe-Universitat Frankfurt am Main – wurde 2009 von der Universität in Kooperation mit der Werner Reimers Stiftung in Bad Homburg eröffnet. Es ist ein Ort der Reflexion, der Debatte und des Dialogs über die Prozesse der Veränderung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung. Es eröffnet einen Raum, in dem neue Wege zum Verständnis, zur Gestaltung und Kritik dieser Wirklichkeit beschritten werden können.
Das Kolleg lädt jährlich bis zu 20 Senior- und Junior-Wissenschaftler*innen aus aller Welt und aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zu gemeinsamer Forschung ein. Bei der Auswahl der Forscherpersönlichkeiten orientiert sich das Wissenschaftliche Direktorium des Kollegs an den Forschungsaktivitäten der Goethe-Universität und an aktuellen Debatten in der Gesellschaft. Als »Fellows« des Kollegs erhalten die eingeladenen Wissenschaftler*innen vielfältige Unterstützung in ihrer Arbeit. Zugleich wird von ihnen erwartet, dass sie mit ihrer Forschung in universitäre Debatten und in gesellschaftliche Diskussionen eingreifen – etwa durch Referate bei wissenschaftlichen Konferenzen, durch öffentliche Vorträge oder auch durch Begegnungen mit Schüler*innen der Region. (FKH-12.10.2015)
Kontakt: Forschungskolleg Humanwissenschaften Am Wingertsberg 4 61348 Bad Homburg Tel.: 06172-139770 Email: This email address is being protected from spambots. You need JavaScript enabled to view it.
Iris Helene Koban, Geschäftsführerin Email: This email address is being protected from spambots. You need JavaScript enabled to view it.; Tel.: 06172-13977-10.
Beate Sutterlüty, Fellowprogramm und Wissenschaftskommunikation Email: This email address is being protected from spambots. You need JavaScript enabled to view it.; Tel.: 06172-13977-15.
Frankfurter Allgemeine Zeitung Ideen der Kinderladen-Bewegung 1969 wurden sie in der liberalen Presse gefeiert, heute noch wirken sie nach
Viele der Erziehungspraktiken, die wir als selbstverständlich wahrnehmen, verdanken wir den Achtundsechzigern. Dies jedenfalls glaubt der Demokratieforscher Till van Rahden. Er bekleidet den Canada Research Chair in German and European Studies an der kanadischen Université de Montréal. In seinem Vortrag "Eine Welt ohne Familie: Der Kinderladen als ein demokratisches Heilsversprechen" am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg beleuchtete er unlängst den unvergleichlichen Anklang, den die Kinderläden in Deutschland fanden; ihr Einfluss sei bis in die Gegenwart spürbar.
In keinem anderen Land waren Kommunen und Kinderläden so populär wie in der Bundesrepublik. Und dies nicht nur in Berlin, Frankfurt und Bremen - selbst in Kleinstädten war damals ein Kinderladen zu finden. In den Vereinigten Staaten, wo Kommunen zur Hippie-Bewegung gehörten, blieben sie eine unkonventionelle Ausnahme. In Deutschland stießen sie auf einen breiten Konsens. Grund dafür war das Bedürfnis nach einer Erziehung, die nach den Verheerungen des NS ein demokratisches Denken erzeugen könne. Stand in den fünfziger Jahren noch die Familie als Ort der Einübung demokratischer Lebensformen im Zentrum, so galt seit Mitte der sechziger Jahre das Patriarchat der bürgerlichen Familie als Ursache des "autoritären Charakters". Die antiautoritäre Bewegung wollte in der Familie die "Keimzelle des Obrigkeitsstaats" erkennen, einen "Ort der Repression, der die demokratische Ordnung auszuhöhlen drohe".
Die antiautoritäre Bewegung wurde sehr ernst genommen - so sehr, dass es manchen Vordenkern unheimlich wurde. Die Manifeste und Anleitungshefte der Bewegung fand man in Verlagen wie Rowohlt, S. Fischer und Hanser. Sogar die katholische Caritas öffnete ihren eigenen Kinderladen. Die Presse schwärmte von den Antiautoritären. "In einer Welt, die gebietet und verbietet, gibt es jetzt ein paar Inseln des Gewährenlassens", hieß es im Aufmacher der "Zeit" im Januar 1969. Es seien junge Eltern, die "die Aufgabe, ihre Kinder zu Menschen des dritten Jahrtausends zu erziehen, sehr ernst nehmen", vermeldete der "Weser Kurier" im März 1970. Sogar die katholische Zeitschrift "Frau und Mutter" erklärte, dass die Demokratie am Spielplatz beginne und lobte die antiautoritäre Version als "Chance, veredelnd auf die Moralvorstellungen und die Umgangsformen zu wirken". Das freie Spiel, der lässigere Umgang mit Schmutz und das Bemalen von Wänden - all dies findet man heute in jedem Kindergarten, ob kirchlich, kommunal oder frei.
Was überrascht, ist allerdings die nonchalante Weise, mit der damals Gesellschaft und liberale Presse die dunkle Seite der antiautoritären Bewegung verdrängten. Nicht nur die Vorstellungswelt der Kommunen, wo, wie man heute weiß, die Ideologie der freien Sexualität auch oft zum Kindsmissbrauch führte. Eine "Erziehung zum Ungehorsam", so der Titel eines von Gerhard Bott herausgegebenen Buches, galt als das Gegengift zum Obrigkeitsstaat. Dass Kinder dabei zur Projektionsfläche von revolutionären Phantasien wurden, fiel damals nur wenigen auf.
ALEXANDRA BELOPOLSKY
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Geisteswissenschaften, vom 30. Juli 2014, S. N3.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung Lokalbahnhöfe der Weltkulturen Die Regionalstudien blühten mit der Globalisierung auf und versprachen eine neue theoretische Sicht auf die Welt. Wo stehen sie heute?
Die Frage, ob die Zerlegung der Welt in Gebiete überhaupt einen sinnvollen wissenschaftlichen Ansatz bildet, kam erst gegen Ende der Veranstaltung. Könnte man nicht mit gleichem Recht Astrophysiker und Mikrobiologen statt nigerianischer und ghanaischer Kultur vergleichen, fragte der Soziologe Rudolf Stichweh. Dass Menschen in lokaler Nachbarschaft dichtere Bezüge weben, ist auch in der globalisierten Welt keine überholte Erkenntnis. Stichwehs nicht einmal provokant gemeinte Frage traf dennoch ins Herz einer unscharfen Disziplin.
Regionalwissenschaften oder Area Studies stellen Wissen über Räume zur Verfügung. Wie sie das tun und welche Aspekte sie auswählen, ist nicht klar umrissen. Ein Experte für georgische Gegenwartslyrik kann einem Germanisten ähnlicher sein als einem Wirtschaftshistoriker, der den kaukasischen Handel erforscht. Politik und Wirtschaft stellen sich Regionalwissenschaftler gern als allwissende Antwortautomaten vor, die auf jegliche Nachfrage aus dem Stegreif referieren. Die Wissenschaft pflegt das Idealbild des Gebietsexperten, der sein Wissen selbstlos den Fächern zuträgt, die Blickbeschränkungen der im nationalstaatlichen Korsett gewachsenen Wissenschaften aufhebt und nebenbei internationalen und interdisziplinären Austausch ankurbelt. In der Praxis waren zuletzt eher Abschottungstendenzen zu erkennen.
Globalisierung und Internationalisierung haben diesen Wissenschaften, die sich oft im Kalten Krieg aus geostrategischen Interessen bildeten, eine neue Blüte beschert. Zusätzlichen Rückenwind gab die kulturalistische Wende der neunziger Jahre, die lokale Wurzeln des Wissens betonte, sensibilisiert von weltpolitischen Umbrüchen wie dem Kollaps des Kommunismus und dem 11. September, die den Blick in die Peripherie gelenkt hatten.
Der rasche Aufschwung war vom Protest der Philologien begleitet, die eine Verdrängung philologischer Kenntnis durch konturlose Sammelbehälter für landeskundliches Wissen beklagten. In der Tat gibt der kulturalistische Blickwechsel noch keine Methode vor. Seit ihrem Bestehen ist das Problem der Regionalstudien ihre Anbindung an die Fachwissenschaften, die gern die systematischen Wissenschaften genannt werden, was den eigenen Mangel an Methode eingesteht.
Im Bad Homburger Kolleg für Humanwissenschaften, wo man den Aufschwung im Rahmen der Reimers-Konferenzen vor über fünfzehn Jahren mit zwei maßgeblichen Publikationen vorangetrieben hatte, war man zur kritischen Selbstprüfung zusammengekommen. Bläst der Aufwind noch? Zumindest die äußeren Zeichen stehen weiter auf Expansion. Musikwissenschaften und Sinologen sind hinzugekommen. Die Rechtswissenschaften sind schon länger im Boot. Ökonomen werden weiter vermisst.
Der Afrika-Historiker Andreas Eckert eröffnete die Konferenz mit einem verhaltenen Ausblick. Wenig Fortschritte sind bei der methodischen Schärfung zu verzeichnen. Die Area Studies bleiben ein loses Bündel ohne dezidierte Theorie. Eckert konstatierte eine Neigung zum methodischen Konservativismus, wo es zur Integration fachlicher Theorie kommt, oder zur Flucht in die reine Empirie. Methodisch uneingelöst bleibt der Versuch, kulturelle Verflechtungen zum theoretischen Fixpunkt zu machen, nachdem man den Raum als festen Bezugspunkt der Kultur aufgegeben hat. Das ist zwar partiell sinnvoll, zumal im Digitalzeitalter, wo IS-Kämpfer in Hiphop-Posen aufmarschieren, birgt aber die Gefahr, den Gegenstand aus den Augen zu verlieren. Die Völkerrechtlerin Isabell Feichtner hob hervor, dass sich manche Gegenstände nur mit eurozentrischem Blick behandeln lassen, wie die europäisch verwurzelte Dogmatik des Völkerrechts.
Ganz anders die institutionelle Seite: Hier sind die Regionalstudien ein blühendes Feld, das sich vor Drittmitteln kaum retten kann. Wie soll es weitergehen? Was die Ausbildung betrifft, ist der Idealtyp der primär fachlich gutausgebildete Wissenschaftler mit regionaler Kompetenz. Erwünscht sind mehr Studiengänge mit Doppelprofil. Im Institutionellen schieden sich die Geister an der Frage, ob man die Nische in Form von Projekten und Zentren kultivieren oder wieder näher an die Fachdisziplinen rücken solle. Die Fächer sind für die internationale Öffnung, vorsichtig gesagt, in unterschiedlichem Maß empfänglich.
Der Rechtswissenschaftler etwa, der sich dem Transnationalen verschreibt, landet im eigenen Land leicht im Abseits. Die Finanzierung läuft über internationale Projekte, die deutsche Wissenschaftskultur ist durch die starke dogmatische Ausrichtung und den Vollständigkeitsanspruch des Staatsexamens unflexibel. Wer sich internationalisiert, darf das gerne tun, bekommt aber keine deutsche Professur. Rudolf Steinberg, ehemaliger Universitätspräsident in Frankfurt, sah darin ein ernsthaftes Problem der Rechtswissenschaften, die sich international marginalisierten. In den Area Studies sind juristische Themen stark vertreten, werden aber bezeichnenderweise von Nichtjuristen betrieben.
In der Musikwissenschaft firmieren transnationale Ansätze meist unter dem Label der Musikethnologie und sind vergleichsweise marginal. Die Kunstgeschichte sucht die Öffnung, ist aber institutionell noch schwach besetzt. Den größten Aufwind hat die Sinologie, die sich dennoch mehr als Philologie denn als Regionalwissenschaft begreift.
Dissens herrschte in der Frage, wie weit sich die Sozialwissenschaften dem Kulturalismus geöffnet haben. Die im soziologischen Kulturalismus dominierende politiknahe Ausrichtung wurde nicht grundsätzlich abgelehnt. Weitgehend einig war man sich in der Distanz zum kulturalistischen Fundamentalismus. Rudolf Stichweh plädierte für einen lokal reflektierten Universalismus, der das Begriffsbesteck der Soziologie nicht einfach wegwirft, schon weil soziale Differenzierung der kulturellen vorausgehe.
Eine Forderung von damals ist zumindest erfüllt: Regionalinstitute schießen im Ausland wie Pilze aus dem Boden, wenngleich von Disziplin zu Disziplin in sehr unterschiedlichem Maß. Die Sozialwissenschaften fühlen sich weiter zu Hause am wohlsten, die Geschichtswissenschaften expandieren zügig. Noch schöner wäre es, wenn die Forscher des Gastgeberlandes in diesen Instituten häufiger zum Zug kämen. THOMAS THIEL (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Natur und Wissenschaft vom 30. Juli 2014, S. N3)
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Frankfurter Rundschau Schnellboot für die Wissenschaft Seit zehn Jahren bietet das Forschungskolleg in Bad Homburg Freiräume für Akademiker aus aller Welt
Neben dem gepflegten Kurpark in der Taunusstadt Bad Homburg ist die Denkstube im Grünen zu finden: Auf dem Anwesen des einstigen Unternehmers Werner Reimers kommen seit mittlerweile zehn Jahren hochkarätige Geisteswissenschaftler zusammen, um sich konzentriert ihren interdisziplinären Forschungsprojekten zu widmen - und um so diese weiter zu vertiefen.
"Im Vergleich zum schwerfälligen Tanker Goethe-Universität" sei das Forschungskolleg Humanwissenschaften mit einem Schnellboot vergleichbar, wenn es um die Entwicklung von Top-Ideen geht, lobte die Frankfurter Unipräsidentin Birgitta Wolff das Konzept, zu dessen Grundfinanzierung die Hochschule den Löwenanteil beisteuert. Gegründet hat das Kolleg die Universität zusammen mit der Werner Reimers Stiftung - um den Wissenschaftlern Freiräume zu eröffnen, aber auch um auf diesem Weg zusätzliche Drittmittel für Forschungsprojekte einwerben zu können.
Jährlich bis zu 30 Wissenschaftler aus aller Welt lädt das Kolleg ein und stellt ihnen Büros oder auch Wohnungen auf dem weitläufigen Gelände zur Verfügung. Zudem können sie einen internen Büchershuttle für die Frankfurter Bibliotheken nutzen. Der Wissenschaftliche Direktor des Kollegs, Matthias Lutz-Bachmann, will neben den Gästen aus dem angelsächsischen Raum und Israel künftig zudem vermehrt Forscher aus Afrika einladen. Auch Stars ihrer Disziplin wie der Historiker Christopher Clark, der in Cambridge lehrt und mit seinen Thesen zum Kriegsausbruch 1914 große Aufmerksamkeit erregte, gingen schon in der Bad Homburger Villa ein und aus.
Außerdem werden ab dem kommenden Jahr zunächst vier Spitzenforscher von der Frankfurter Universität ans Kolleg berufen, um innovative Forschungsfragen über einen Zeitraum von bis zu vier Jahren zu internationalen Projekten auszubauen. Für diese Aufgabe wird das Pensum an Lehrveranstaltungen, zu dem die Uni die Professoren verpflichtet hat, um ein Viertel reduziert.
Im Zentrum des Kollegs Humanwissenschaften stehen die Forschungen zum Menschen als ein sprachliches, soziales und politisches Wesen. Zu Gast aus den USA ist derzeit unter anderem William Scheuermann, Professor für Politikwissenschaft und internationale Beziehungen. Sein Thema ist der zivile Ungehorsam und dessen Bedeutung für unsere heutige Gesellschaft, auf den sich beispielsweise der US-amerikanische Whistleblower Edward Snowden, aber auch Aktivisten der kapitalismuskritischen Occupy-Bewegung berufen. Seine Leitfrage, die im Bereich der normativen Wissenschaft angesiedelt ist, lautet: "Was ist erlaubt? Was wird verfolgt?".
"Uns ist aber auch daran gelegen, dass wir komplizierte Fachfragen auch mit der Öffentlichkeit im Rahmen von Veranstaltungen diskutieren", betont Direktor Lutz-Bachmann. Zu den in der Regel gut besuchten Vorträgen, die das Kolleg regelmäßig veranstaltet, kommen auch höhere Klassenstufen.
Dass die moderne Tagungsstätte das Profil des Wirtschaftsstandorts Bad Homburgs auch als Wissenschaftsstadt im Rhein-Main-Gebiet schärfe, mache ihn stolz, betonte Alexander Hetjes (CDU), Oberbürgermeister der Stadt Bad Homburg. Die Stadt wie auch der Hochtaunuskreis unterstützen das Kolleg seit 2007. Nach einem fraktionsübergreifenden Beschluss hat die Stadt die Einrichtung seither mit rund 350 000 Euro gefördert.
Franziska Schubert Frankfurter Rundschau, 13.10.2016, Seite 29 - Ausgabe FRD, FRMZ, FRDA, FRMK, FRHT, FRS, FRMT
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