Historisches Kolleg
»Kapitalismus auf dem vergessenen Kontinent: Die ›große Divergenz‹ seit 1800 und der Wandel von Arbeitsformen in Afrika«
In seinem Vortrag »Die ›große Divergenz‹ seit 1800 und der Wandel von Arbeitsformen in Afrika« differenzierte der Historiker und Afrikaexperte Andreas Eckert das von der einschlägigen Forschung gezeichnete Bild Afrikas – wonach der Kontinent nur als Gegenstand imperialer Ausbeutung zu sehen sei – aus. Seiner These nach habe es dort ganz unterschiedliche Reaktionsmuster auf die Interessen europäischer Handelsstaaten und Kolonialisten gegeben. Teils freiwillig, teils widerstrebend, teils nur unter massivem Zwang bediente die Bevölkerung die externe Nachfrage nach Arbeitskräften. Die heterogenen lokalen Eliten integrierten sich dabei in den globalen Kapitalismus. Sie taten dies aber nicht – wie es andernorts häufig der Fall war – durch die Ausbeutung von Arbeitskräften vor Ort, also die »freie« Lohnarbeit von Landlosen für kapitalistische Investoren, sondern betrieben Menschenhandel. Die Sklaverei habe also in Afrika zwar nicht zum Kapitalismus geführt, aber der Kapitalismus habe einen bedeutenden Beitrag zur Etablierung der Sklaverei geleistet. Deren Ende gründete Eckert zufolge zwar auch, aber nicht in erster Linie auf Rentabilitätsüberlegungen; bedeutsamer sei eine vorrangig theologisch motivierte Ideologieumkehr gewesen.
In der Kolonialzeit dann bedienten sich Europäer – im Zuge des »verzweifelten Versuchs«, die Kolonien profitabel zu machen – der Zwangsarbeit. Oft beließen die Kolonisatoren die afrikanischen Arbeiter jedoch auch in den vor Ort gegebenen Strukturen. Vorherrschende Arbeitsfomen waren Hausarbeit und Landwirtschaft sowie immer mehr auch die Lohnarbeit. Die selbstständige Arbeit, etwa von Unternehmern im Kakaoanbau, sei in der bisherigen Debatte über Kapitalismus und Afrika kaum angemessen gewürdigt worden. Dies könne damit zusammenhängen, dass die dabei zu Tage tretenden Verhaltensweisen nicht in die im Zusammenhang mit Kapitalismus formierten Schemata passten. Erfolgreiche afrikanische Unternehmer hatten sich bei ihren Investitionen häufig anders verhalten, als es die Europäer von ihnen erwartet hätten.
Seit den 1920er Jahren kam es im Zuge einer internationalen Debatte über arbeitsrechtliche Mindeststandards zu einer Unterscheidung in »normale« und »koloniale« Arbeitsformen. Die Dekolonisationstendenzen seit Mitte des 20. Jahrhunderts führten dann zu einer Umwertung der ehemaligen Kolonien in sogenannte »Entwicklungsländer«. In der Gegenwart gebe es zwei wesentliche Elemente der Verbindung von Afrika und Kapitalismus: einerseits die Hoffnung, die – historisch betrachtet recht neue – Überbevölkerung in Afrika werde der Auslöser für veränderte Produktionsstrukturen und damit für wirtschaftliches Wachstum sein; andererseits das land grabbing internationaler Konzerne, die – zum Teil auf umstrittene Weise – Land und Ressourcen in Afrika erwerben.
Für Andreas Eckert spricht die historische Betrachtung nicht zuletzt des afrikanischen Beispiels gegen die Idee eines weltumspannenden, alles transformierenden Kapitalismus. Könne die Wirtschaftsgeschichte Afrikas nicht vielleicht sogar als Widerstandsgeschichte gegen den Kapitalismus gelesen werden – allerdings um den Preis der Armut und der Marginalisierung? In jedem Fall sei es für die historische wie die aktuelle Betrachtung unerlässlich, Afrika nicht als Einheit, sondern differenziert zu denken und ein Auge für die Vielgestaltigkeit des Kontinents zu haben.
(FKH - 02.11.2015)
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